Fügen und einfügen

 

 

He, Sie da! Hallo!

Ja, Sie! Nein, nicht Sie, mein Herr. Der Herr mit der ALDI-Tüte.

Richtig, Sie mein Herr.

Kommen Sie doch bitte mal hier nach vorne.

Nun zieren Sie sich nicht.

Wie bitte? Sie haben es eilig.

Ich weiß! Man sieht es Ihnen an. Sie sind total abgehetzt. Gerade deshalb bzw. auch deswegen möchte ich, dass Sie sich hier vorstellen.

 

Ich ..., ich meine, „Wir“ werden Sie auch nicht lange aufhalten.

 

Ja, bitte stellen Sie sich hier neben mich. Geben Sie mir Ihre Tüte. Die stellen wir solange auf den Stuhl. Nein, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Sie kommt schon nicht weg.

 

Drehen Sie sich bitte um; mit dem Gesicht zum Publikum. Sehen Sie, alles vertrauensvolle Gesichter.

 

Meine Damen und Herren, schauen Sie sich unseren verehrten Gast an!

 

Nein, nein, Sie brauchen sich nicht von allen Seiten zu zeigen. Dies ist kein Zirkus. Ich will Sie auch gar nicht vorführen.

Sie sind doch ein Mensch. Und die Würde des Menschen verbietet es, ihn zum Affen zu machen.

 

Sie haben Recht, meine Dame! Es ist die Freiheit des Menschen, sich selbst zum Affen zu machen.

 

Entspannen Sie sich mein Herr. Sie stehen hier nur in Vertretung. In Vertretung für einige, Gott sei Dank, nur wenige noch übriggebliebene andere Menschen, ob Mann oder Frau, die so sind wie Sie.

 

Doch, mein Herr! Sie sind etwas Besonderes. Schauen Sie mal ins Publikum! Was sehen Sie?

 

Menschen. Richtig! Menschen mit rosigen Gesichtern. Weiche, entspannte Gesichtszüge. Eine lockere Haltung. Ihre Augen funkeln interessiert. Sie sehen alle wohlgenährt und ruhig aus. Sie verströmen den Eindruck, alle Zeit der Welt zu besitzen.

Ganz im Gegensatz zu Ihnen.

Ihre Haut ist bleich, grau, Neonröhren getönt. Jede Faser Ihres Körpers ist gespannt. Verkrampft! Ihre Augen sind matt. Erschöpft! Ihre Schultern sind gebeugt, so, als trügen Sie alles Leid der Welt darauf. Und es quillt aus jeder einzelnen Ihrer Poren, keine Muße, keine Ruhe zu haben.

 

Nein, mein Herr! Ich will Sie nicht beleidigen. Ich gebe nur wieder, was meine Augen sehen. Was die anwesenden Zuschauer bestätigen können.

 

Mein Herr, verstehen Sie mich nicht falsch!

Wie gesagt, ich möchte Sie nicht beleidigen.

Aber, haben Sie sich heute schon übergeben?

 

Sie missverstehen mich! Ich meine es nicht wörtlich, sondern bildlich, im übertragenen Sinne.

Sehen Sie, ich gehe davon aus, Sie haben Ihren 8 Stunden Büroalltag hinter sich gebracht. Richtig?

 

So wie jeden Tag, mussten Sie Ihre Position behaupten und verteidigen. Liege ich richtig?

 

Sie sind ja auch nicht mehr in Ihren Zwanzigern.

Und mehrmals am Tag haben Sie die Faust in der Hosentasche ballen müssen. Der Magen übersäuerte, und die Galle kam hoch, aber Sie sind sachlich geblieben. Nicht wahr?

 

Ja, mein Herr! Ihr Organismus ist ein guter Berichterstatter.

Sie befinden sich nun auf dem Heimweg. Sie haben vorher noch etwas eingekauft. Sie sind durch einen öden Lagerraum gerast und haben Lebensmittel eingeholt.

Außer den Zahlen Ihrer Rechnung haben Sie kein an Sie gerichtetes Wort vernommen. Keinen „Guten Abend!“, kein „Wie geht es Ihnen?“

Sie preschen mit der Tüte in der verkrampften Hand nach Hause und mit einem Ihnen innewohnenden Überraschungspaket.

 

Ja, mein Herr. Ein Überraschungspaket. Etwas, was Sie unterschlagen haben!

 

Regen Sie sich nicht auf, mein Herr!

Niemand wird es bemerken. Es ist auch nichts Wertvolles. Ganz im Gegenteil. Keiner wird Eigentums- oder Besitzansprüche anmelden.

Es ist einfach so, Sie haben etwas von seinem angestammten Platz weggenommen, in sich aufgenommen und tragen es mit sich herum und jetzt nach Hause.

Es ist der ganze Abfall ihres Büroalltags, der in Ihnen gärt, den Sie nicht gleich dort gelassen haben, wo er angefallen ist.

Sie haben sich nicht übergeben.

Sie haben Arbeitsmüll nicht an den Adressaten zurückgegeben, sondern wollen jetzt Ihre Familie damit erfreuen.

 

Bedenken Sie, mein Herr, zu Hause ist es wieder verwertbare Ware, weil dort kein geeigneter Müllcontainer vorhanden ist.

Die Arbeitsplatzaustattung unserer heutigen Zeit sollte neben einem Aktenvernichter auch dafür einen entsprechenden Mechanismus vorsehen.

 

Wie ich sehe, mein Herr, sind Sie nachdenklich geworden.

Schauen Sie hier vor Ihnen Ihre Mitmenschen an. Sie hören zu. Teilnehmend! Nicht bemitleidend! Es sind keine Voyeure!

Mein Herr, wenden Sie sich diesen Menschen zu. Bräunen Sie Ihre lichtempfindliche Haut an der Ausstrahlung der Kommunikationsgesellschaft.

Wir reden miteinander, hören einander zu, wenden uns dem anderen zu, kommen uns näher und wenden uns selber für- einander auf. Die Zeiten der Einzelkämpfer, des Überlebens der Stärkeren, dieses biologische Erbe haben wir mit der Kultur, mit unserer Kultur ausgerottet.

Ein Wertewandel hat stattgefunden, mein Herr. Wie es scheint, haben Sie vor lauter Überlebenskampf diesen Umbruch verpasst.

Schauen Sie um sich herum. Schauen Sie in diese Gesichter!

Ich sehe, dass ein Lächeln ihr Gesicht einnimmt. Ihre Züge entspannen sich und die fahle Blässe weicht einer leichten Rötung.

 

Mein Herr, stimmen Sie mit uns ein! Die Errungenschaften der Gemeinschaft in der Neuzeit haben uns der Notwendigkeit enthoben, für unser Leben arbeiten zu müssen.

Unsere Tätigkeiten dienen der Gestaltung unseres gemeinschaftlichen Lebens. Wir arbeiten, um unserem Leben Inhalt und Fülle zu geben, nicht, um uns auszulaugen, uns auszumergeln oder gar uns zu erschöpfen.

 

Vielen Dank, mein Herr, dass Sie sich uns für diese Widerspiegelung zur Verfügung gestellt haben!

Hier, vergessen Sie Ihre Tüte nicht!

 

Liebe Freunde, einen Applaus für unseren Mitmenschen.

Oh, wo ist er? Mein Herr, wo immer Sie jetzt sein mögen - ich kann Sie nicht mehr in der Gruppe ausmachen -, seien Sie versichert: Sie sind nicht mehr auffällig.